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Aus den Erfahrungen einer Pilgerin... TRAMP - als meine Füße zu beten begannen Rechter Fuss, linker Fuss. Rechts, links, rechts. Immer weiter. Vor mir gehen zwei graue Wanderschuhe im selben Takt. Rechts, links, rechts, links. Pilgern ist beten mit den Füßen. Hat Pater Jean Uriel gesagt. Wenn das so ist, beten meine Füße jetzt schon seit 9 Stunden. Hardcore! Sie beten irgendwo in der polnischen Pampa, umgeben von schaukelnden Rucksäcken, alternativen Kopfbedeckungen und schweizerdeutschen Wortfetzen, zusammen mit 34 anderen Fußpaaren. Sie folgen dem Kreuz, das im vordersten Rucksack hin- und herschaukelt. 9 Tage lang trampen wir zur Madonna nach Tschenstochau. 9 Tage pilgern, 9 Tage in der Natur: endlose Wälder, kniehohes Gestrüpp, reife Felder, blaue Seen. Ein Weg nach Kompass und ungenauen Karten, tausende von Schritten. Wir tauschen Blasen gegen Kilometer und Pflaster gegen Massagen. Wir laufen vom atheistischen Tschechien ins urkatholische Polen, laufen uns die eigene Gottlosigkeit vom Leib, gehen der aufgehenden Sonne entgegen, bewusst dem Kreuz hinterher. Jetzt singen wir laut, während die letzten Kilometer des Tages unter unseren Füßen schmelzen. Dann bleibt das Kreuz an einer Lichtung im weichen Waldboden stehen. Erleichterung macht sich breit. Taschen, Isomatten, Zelte und Schlafsäcke liegen in einem riesigen Haufen zwischen Tannennadeln, Moos und Laub. Die wahrhaft kompetenten Tramper unter uns lassen sich selbst durch kreative Vorschläge nicht daran hindern, erfolgreich unsere Zeltstadt aufzubauen. Später knie ich zwischen Brombeerranken und Ameisen. Durch das Blätterdach der Bäume fällt die tiefstehende Sonne auf das weiße, runde Stück Brot, das der Priester zum blauen Himmel hebt. Ein Baumstumpf ist der Altar auf dem Gott sich klein macht, in der Nähe unserer Zelte, im Beisein des ganzen Universums. Meine Füße schweigen. Mein Herz pocht. Abends sitzen wir noch lange an der Feuerstelle, essen köstlichen Risotto aus der Feldküche und Schokobananen aus dem Feuer, spielen gemeinsam, erzählen und lachen viel. Nach und nach wird es still, einzelne Gaslaternen wandern noch zwischen den Bäumen umher. Am nächsten Morgen riecht mein Hoodie nach Rauch und Wald, als ich mit einem Becher heißem Kaffee auf der Rolle sitze die eben noch unser Zelt war. Dann sind wir wieder unterwegs. Pilgern ist beten mit den Füßen. Meine Füße beten nicht, sie tanzen. Soweit das mit Wanderschuhen eben geht. Ich schwebe schweigend hinter dem Kreuz her. Am ersten Morgen konnte ich den Drang zu Reden kaum unterdrücken: der über Tage gebraute Cocktail aus großer Vorfreude, gespannter Erwartung und kaum zugegebener Angst, wollte sich unbedingt in gewohnter Weise über alle ergießen. Aber jetzt liebe ich das Schweigen der Frühe! Die Füße laufen von allein und lassen meine Seele frei. Eine Ahnung vom ersten Tag der Welt. Die Welt ist ein Wunder. Unfassbar schön! Der polnische Boden der Tatsachen ist sehr grün, kniehoch und noch feucht vom Tau. Vereinzelte Strohballen liegen in der hügeligen Pracht. Im losen Gänsemarsch wandern wir schweigend durch dieses Gemälde. Es ist schön, sich einfach nur zuzulächeln. So gehen wir jeden Morgen. Privataudienz bei Gott. Für den der möchte. "Gebt euch nicht mit Mittelmäßigkeit zufrieden!" Johannes Paul II., auf dessen Spuren wir unterwegs sind, fordert mich heraus. In Gesprächen fragen wir gemeinsam weiter, nach dem Sinn, der Freiheit, nach Gott. Und nach dem Weg ins nächste Dorf. Da fragen wir heute schon zum wiederholten Mal nach. Der Asphalt glüht unter meinen Sohlen. Pilgern ist beten mit den Füßen. Das steht sogar so im YOUCAT, scheint meine Füße aber nicht zu beeindrucken. Anstelle der erwarteten Flügel, wachsen denen da unten neuerdings Blasen. Eine rechts, eine links, ziemlich sicher! Plötzlich hält ein Auto am Straßenrand. Mit langen Schritten, weit ausgebreiteten Armen und wehender Soutane begrüßt uns ein polnischer Priester überschwänglich, bevor er munter hupend Richtung Dorf davon braust. Am Ortseingang nimmt er uns standesgemäß mit großen Mengen Weihwasser in Empfang. Da ahnen wir noch nicht, dass die Dusche aus einem Gartenschlauch mit eiskaltem Brunnenwasser bestehen wird, sonst hätten wir die Weihwasserdusche ausgiebiger genossen. Auf den Stufen zum Hauptportal der Kirche stehen alte Frauen und klatschen begeistert, als wir ankommen. Rührend irgendwie, dass sie sich so über uns freuen. Nach der Messe singen dieselben Frauen inbrünstig traditionelle Marienlieder. Die Religiosität Polens. Sie fängt bei Marien- und Papststatuen im Vorgarten an und zeigt sich uns vor allem in umwerfend herzlicher Gastfreundschaft. Wir werden spontan zum Tee in einen Garten eingeladen, eine Frau zieht vor meinen Augen ihre eigene Bettwäsche ab, um uns ihr Bett anzubieten. Familien öffnen die Türen ihrer Duschkabinen. Unser aufrichtiger Dank ist ein lächendes "dziękuję" und ein Fürbittbuch, in dem wir alle Anliegen entlang unseres Weges mitnehmen. Auch die eines ganzen Dorfes, von dem der Pfarrer meinte, es wäre zu klein und arm um uns zu beherbergen, das uns aber unbedingt empfangen will. Die Kreisbürgermeisterin, der Ortsbürgermeister und der Pfarrer heißen uns willkommen. Sie bereiteten uns ein Wahnsinns-Festmahl als wir müde und verschwitzt ankommen. Überhaupt: Ankommen. Unterwegssein ist ja schon schön, aber das Ankommen macht das Unterwegssein erst perfekt! Nie war ich dankbarer für eine einfache Matte am Boden, nie glücklicher beim Anblick von normalen Sandwiches. Nie habe ich mich schon während der Woche so sehr auf den Sonntag gefreut, der bedeutete, dass wir einen GANZEN TAG lang einfach nur chillaxen durften, in diesem Kloster mit riesigem Garten. Wir waschen Wäsche in der Dusche, besuchen eine polnische Messe, treffen uns zu einem späten Brunch im Refektorium, verlegen das Leben dann wieder nach draußen – die Macht der Gewohnheit. Wir lassen uns die Füße massieren oder den Nacken, je nachdem. Wir essen Kekse, singen, hängen unsere Wäsche auf, spielen Karten, essen noch mehr Kekse, pflegen unsere geschundenen Füße und machen eine Siesta. Wir philosophieren über das Leben und die Beschaffenheit unserer Blasen. Dann ziehen Wolken auf: hektisches Einsammeln von geschätzten 100 Metern kreuz und quer hängender Wäsche, natürliches Ende der Tiefenentspannung unter freiem Himmel. Am nächsten Morgen sind wir wieder on the road. Die Grenzen der Tage verschwimmen. Das Leben als Tramp ist ein Leben im Augenblick. Ein Regenguss, brennende Sonne, ein Fluss, den wir barfuß durchqueren, ein Wegkreuz mit deutscher Aufschrift. Ein irrsinnig steiler Aufstieg, schweißgebadete Gesichter, wandernde Wasserflaschen. Die Suche nach dem Weg, der durch ein Feld ersetzt wurde. Der Bauer, der extra mit dem Rad nochmal vorbei kommt, um uns den Weg zu zeigen. Kläffende Hunde. Immer wieder die polnische Gastfreundschaft. Der Fährmann der extra auf uns wartet und uns kostenlos über einen Fluss bringt. Mittagsschlaf im Wald, ein Impuls. Jodelnde Schweizer. Duschende Schweizer die jodeln. Jodeln als Schweizer Dankeschön für erlebte Gastfreundschaft. Rosenkranzgebet. Stille. Lautes Lachen. Vertraute Gesichter. Dann kommen wir an. So ganz unvermittelt. Tschenstochau. Nie war Ankommen besser! Die polnische Erde berührt den Himmel. Ich bin froh, dass Gottes Sprache Stille ist, denn mir fehlen die Worte. Schweigend bete ich an. Mein Herz schlägt in den Füßen. Abspann (dieses Kopfkinofilmes): Ich komme von der Dusche zurück in unseren Schlafsaal bei den Johannesbrüdern in Marchegg, gerade hat ein Bub eine kurze Befragung beendet: Wo kommt ihr her? Antwort: Wir sind 2 Wochen zu Fuss durch Polen gepilgert… Bub: Das riecht man!!! Im Bus schaukeln wir unseren Waschmaschinen entgegen. Und unserem alten Leben. Es wird Zeit alte Wäsche zu waschen und aufzubrechen aus dem Land unserer Mittelmäßigkeit. Mit sauberen Füßen und reinen Herzen. Dem Kreuz hinterher, der Sonne entgegen. Nicht zufrieden mit Mittelmäßigkeit. Box 1: Pilgern ist beten mit den Füßen. Auf unserem Rückweg fahren wir nach Ausschwitz. Ich hoffe meine Füße beten, während meine Seele weint. Klagende, fassungslose Stille des deutschen Mädchens im Angesicht der Shoah. Lautlos tropfen meine Tränen auf blutdurchtränkten Boden. Wir dürfen nie vergessen, können nicht verstehen und müssen vergeben. Maximilian Kolbe, Edith Stein und Schwester Faustyna machen unseren jungen Herzen Mut. Das Böse ist real! Aber ihm sind Grenzen gesetzt durch Gottes Barmherzigkeit, durch Menschen in denen Gott wohnt. Ich will Grenze sein, Leuchtfeuer des Guten, Wohnung Gottes und nicht nur sein Ferienhaus. Der Aufruf des polnischen Papstes schreibt sich tief in mein Herz: "Gebt euch nicht zufrieden mit Mittelmäßigkeit!"
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